Der Künstler und Arzt Dr. Dietmar Wappler (1938–2010) wäre in diesem Jahr 80 Jahre geworden. Aus diesem Anlass zeigt das Museum in Bautzen einen Querschnitt seiner Kunst ab den 1960er Jahren. Eine Reihe von Bildwerken ist am Strohmberg entstanden, der seit den 1980er Jahren den Künstler magisch angezogen hat. Ähnlich war hundert Jahre zuvor der französische Maler Paul Cézanne unzählige Male zu ein und demselben Bergmotiv zurückgekehrt: dem Sainte-Victoire. Für Dietmar Wappler wurde der Strohmberg zur Inspirationsquelle. Ein Berg, dessen Wortklang an Energieströme denken lässt, an einen breiten fließenden Strom, an Bewegung und Antrieb. Es werden viele Sagen um den Schatz vom Strohmberg erzählt; archäologische Funde sprechen von frühen Besiedlungen. Sein Basaltgipfel mit den Steinbrüchen interessiert Dietmar Wappler aus geologischer Sicht. Zudem hat man von oben einen weiten Rundblick über die Lausitzer Berge, die umliegenden Dörfer und Kirchturmspitzen in der Ferne. Aber bereits auf dem Weg dahin malt er alles, was er sah und was ihn bewegte: die knorrige alte Apfelallee, die zum Gipfel führte, den braunen Acker daneben und die hochaufragenden Basaltsäulen. Nichts ist ihm zu banal, selbst ein sperriges Tiergatter nutzt er für großformatige Experimente auf Folie.
Das Verblüffende: in den Bildern kommt der eigentliche Strohmberg überhaupt nicht in seiner Gesamtheit vor, nur in Versatzstücken als Teile eines Ganzen, nach dem Prinzip des pars pro toto. Sowohl in der Naheinstellung mikroskopisch vergrößert als auch vom Gipfel hinab bis zum fernen Horizont ergründet der Maler durch wechselnde Perspektiven das Wesentliche der Landschaft. Er nähert sich seinen Motiven stückweise mit verändertem Duktus – anfangs fast realistisch, später immer mehr abstrahierend – bis sich sein ganz eigener künstlerischer Stil herausbildet.

Die Motive dienen zur Schulung und Bewältigung von Raumtiefe. Das Thema, das ihn besonders an der Renaissance-Malerei fasziniert hatte, beschäftigt ihn permanent in seinen Arbeiten, wie bei seinen Kastenbildern, die ebenso im Museum ausgestellt werden. Um Räumlichkeit festzuhalten, eigneten sich hervorragend die für die Lausitz typischen Obstbaum-Alleen, die den Blick regelrecht in die Tiefe der Landschaft hineinziehen. So führt er das riesige Bildnis einer Apfelallee in strenger Zentralperspektive aus. Dieses farbig leuchtende Folienbild gehört zum Spätwerk Dietmar Wapplers. Dafür entwickelte er eine spezielle Maltechnik mit bunten Acrylfarben und dunkelbraunem Bitumen, das er mit den bloßen Händen auf Gewächshausfolien verstreicht. Vor den hellen Museumsfenstern hängend entfalten die transparenten Folienbilder im Gegenlicht eine ungeheure und Strahlkraft. Bei den Strohmberg-Bildern variieren nicht nur Maltechnik und Material wie Kreide, Öl, Acryl und schließlich Bitumen auf unterschiedlichen Malgründen aus Papier, Leinwand und Folie. Auch bei den Bildformaten gibt es extreme Unterschiede. Die Spanne reicht vom kleinen Pastellbild im A4-Format bis hin zu dem zweieinhalb Meter hohen Folienbild der Allee am Strohmberg.

Doch nicht nur zum Malen kehrt Dietmar Wappler über Jahre hinweg immer wieder dahin zurück. Zum Strohmberg und seinen stillgelegten Steinbrüchen begibt er sich – auf der Suche nach Mineralen – nicht nur mit Farben sondern auch mit Pickelhammer und Lupe im Rucksack. Im Basaltinneren findet er kristallines Natrolith mit feinen strahlenförmigen Nadeln. Diese Fundstücke und andere geologische Exponate korrespondieren in der Ausstellung mit den gemalten Landschaften, aus denen sie stammen. Auf vielen seiner Bilder hält er die Fundorte seiner geologischen Streifzüge fest. Er will die Berge nicht nur oberflächlich mit dem Auge betrachten und darstellen, sondern von innen her begreifen. So sind in der Schau neben den zweidimensionalen Werken des Malers auch ausgewählte Steine seiner Mineraliensammlung zu sehen. An den Fundorten in der Lausitz, den Alpen und auf Island fand Dietmar Wappler nicht nur die gesuchten Gesteine, sondern variantenreiche Motive für seine Kunst. Neben der Geologie faszinierte ihn an den uralten Steinen natürlich ihre Ästhetik. Dünnschliff von Gesteinen vergrößert er unter dem Mikroskop und entdeckt malerisch interessante Strukturen. Die abstrakten Formationen bildet er mit Acryl- und Ölfarben ab – wie bei dem Leinwand-Gemälde „Kristallin“ von 1985.

Am Strohmberg kristallisiert sich gewissermaßen sein Malstil heraus. Aufgewachsen war Dietmar Wappler in Dittersbach in der Oberlausitz am Fuße des Knorrberges, dessen Basaltkuppe – wie beim Strohmberg – von markanten Basaltsäulen geprägt ist. Die aus erstarrtem Lavastrom entstandenen Formen sind altbekannt und vertraut. Es ist ein Wechselspiel zwischen künstlerischer und geologischer Auseinandersetzung, bei der es auf den richtigen Blick ankommt. Beim Steinesuchen ist der Blick nach unten gerichtet. Je genauer man die Steine erkennen möchte, desto mehr muss man sich dem Boden nähern, sich bücken, niederknien, mit den Händen die Erde absuchen, Steine umwenden. Ist man fündig geworden, kommt der Sammler beim Bestimmen mit Lupe und Mikroskop dem Mineral später noch ein Stück näher. Diese Naheinstellung schärft das Sehen. Nach stundenlangem Hinunterschauen ist es befreiend, dann wieder den Blick zu heben und in die Ferne schweifen zu lassen. Es ist ein Blickwechsel zwischen Draufsicht auf die Gesteine als Naheinstellung und Weitsicht in die Tiefe der Landschaft, die der Künstler durch perspektivische Darstellungen verkleinert.
Die Suche nach Mineralien und Bildmotiven am Strohmberg lässt Dietmar Wappler zuweilen verbotenes Terrain gefährlicher Klippen und Steinbrüche betreten und in der Kunst gegen den Strom schwimmen, wie auch in seinem gesamten Lebenslauf. „Aber gerade das zeichnet eben auch Kunst aus, dass sie Neues entdeckt, dass sie experimentiert und eingeschliffene Pfade verlässt.“ (Heidi Stecker, Galerie für Zeitgenössische Kunst, zur Einzelausstellung „Kunst auf Folie“ von Dietmar Wappler 2010 in Leipzig)

Text: Astrid Wappler, Kuratorin der Ausstellung